In: FUGE Band 3, "Der Staub Gottes", Paderborn, Schöningh, 2008, S. 9ff.
»(...) Weimer dagegen präsentiert uns Marx und Freud, Schopenhauer und Nietzsche als die John Waynes des Atheismus, die aus dem Nichts auftauchen, die Pistole zücken und den transzendenten Gott erschießen. Er spürt nichts von dem religiösen Ringen, das sich bei den Heroen der Moderne zugetragen hat. Seine Tonart ist wenig hermeneutisch, geschweige denn einfühlend. Dadurch entzieht sich ihm nicht nur der historische Sinn der Moderne, sondern er verfehlt auch die Schwingungen in der Brust des modernen Menschen. Denn dessen innerliche Zerrissenheit, sein Wille zum Glauben, der jedoch kein automatisches Glaubenkönnen einschließt, begreift nur, wer durch die modernen Schriftsteller hindurchgegangen ist, und nicht, wer sie ohne gute Gründe zurückweist.
Kein Mensch, der mit dem Glauben ringt, geht achtlos an Marx und Freud oder an Schopenhauer und Nietzsche vorbei. Zu viel von dem, was diese Autoren geschrieben haben, kennt er aus seinem eigenen Leben. Am jungen Marx mag ihn der Gedanke interessieren, dass der Glaube eine Weltflucht ist, die durch entfremdete Verhältnisse in einer arbeitsteiligen Ökonomie ausgelöst wird. Bei Freud stößt er auf das Problem der Selbsttäuschung und auf die Vermutung, dass der Glaube eine Art Geborgenheitssehnsucht ist, eine Suche nach dem schützenden Vater. Er kann Freud aber auch lesen als einen Schriftsteller, der mit dem mythologischen Bilderreservoire des Abendlandes jonglierte und es in einer eleganten Prosa entfaltete. Bei Schopenhauer könnte ihn die Mitleidsethik interessieren, die eine große Nähe zum christlichen Brüderlichkeitsethos nicht leugnen kann. Und bei Nietzsche mag er darüber ins Grübeln geraten, ob das Christentum, wie von Weimer unterstellt, wirklich eine Religion der Werte ist, wenn er Christus mit guten Gründen als einen Anti-Moralisten dargestellt bekommt: »Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein.« (Nachgelassene Fragmente, Sommer–Herbst 1882)
Wenn er durch Nietzsche hindurchgeht, dann betritt er nicht nur den schwankenden Boden der Moderne, sondern bekommt auch eine philosophische Vorstellung davon, wie das Unbehagen an den politischen Verheißungen des Aufklärungszeitalters formuliert werden kann. Denn Nietzsche hat in aller Deutlichkeit mit dem Mythos der Gleichheit aufgeräumt, indem er das Bild des heroischen und genialischen Menschen zeichnete, an dem wir uns orientieren können, wenn wir nicht in der ängstlichen Geborgenheit des Mittelmaßes verharren möchten, sondern über uns selbst hinauswollen. »Also nur der, wer sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur.« (Unzeitgemässe Betrachtungen) Als Katholik fragt man sich zwar, wie dies mit der Devotion der Demut zusammengeht. Doch es beschleicht einen die Ahnung, dass der große Mensch eben ein demütiger ist. Und war nicht Christus selbst ein großer Mensch, einer, der sich unterschied? Und doch darf nicht unterschlagen werden, dass Nietzsche selbst Renans Plan, Christus heroisch zu begreifen, scharf zurückgewiesen hat, weil er den Begriff des Helden mit dem Kämpferischen verknüpfte und das Evangelium als Inbegriff der »Unfähigkeit zum Widerstand« verstand (Der Antichrist). Aber das verbietet uns nicht, über Christus als denjenigen nachzudenken, der sich abhebt.«