In: FUGE Band 1, „Das westliche Dilemma“, Paderborn, Schöningh, 2007, S. 56f.
AUTOR
James Sweeney
»Hier benötigen wir eine umfassendere Phänomenologie, die auch die religiöse Innenperspektive berücksichtigt. Heelas und Woodheads Beschreibung der ›außenorientierten‹ Religion als Entfremdung vom Selbst und Vernachlässigung subjektiver Interessen trifft nur einen Teil der Wahrheit, wie eine breiter angelegte Studie religiöser Praxis im kosmopolitischeren Milieu einer Großstadt gewiss hätte zeigen können. Eine Religion stellt ihren Anhängern Erzählungen, Symbole und Praktiken zur Verfügung, in denen sich eine bestimmte Weltsicht manifestiert. In klassisch christlichen Begriffen ausgedrückt, handelt es sich um eine sakramentale Sicht der Realität, die tief im menschlichen Geist verankert ist und die das In-der-Welt- Sein des Individuums strukturiert. Insofern er eine grundsätzliche Unterwerfung unter Gott und Gottes Pläne erfordert, hat der religiöse Geist ein zutiefst gespanntes Verhältnis zu post-aufklärerischen Beg-riffen menschlicher Autonomie. Nicht, weil er die Vorstellung menschlicher Autonomie ablehnt, sondern weil er sie anders definiert: »Wer sein Leben findet, wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden.« (Mt 10, 39)
Die Wahrheiten der Religion lassen sich nicht mit den Begriffen wissenschaftlicher Ratio erschließen, sondern nur über gänzlich andere Pfade der Weisheit. Man sollte versuchen, sich religiösen Beschreibungen des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft mit ihren eigenen Begriffen zu nähern. Wenn sie auch eines kritischen Dialogs mit anderen Wissensgebieten bedürfen, so sollten sie doch keinesfalls restlos in anthropologische oder soziologische Begriffe übersetzt werden. Es gibt mannigfaltige Arten religiösen Glaubens und mannig-fache Arten, sich die Wahrheiten des Glaubens anzueignen, von der fundamentalistischen, literalistischen bis hin zu hochentwickelten theologischen Analysen. Kritische Reflexion innerhalb der religiösen Tradition ist, ebenso wie das kritische Nachdenken über die zeitgenössische Kultur, ein wesentlicher Bestandteil religiöser Erkenntnis, auch wenn dies von manchen Glaubens-strömungen vernachlässigt wird. Daraus folgt jedoch keine kritiklose Übernahme eines post-aufklärerischen Skeptizismus, der sich fast immer als zersetzend für Glauben und religiöse Bindung entpuppt.
Obwohl religiöse Wahrheiten für den größten Teil der Bevölkerung nur noch eine dunkle Erin-nerung sind, ›funktionieren‹ sie dennoch weiter, insofern die Menschen sich nicht endgültig von ihnen trennen wollen. In ihnen deutet sich noch immer eine Alternative zum ›eisernen Käfig‹ der Moderne an. An dieser Stelle setzt Hervieu-Légers Religionssoziologie an: dort, wo die Dekonstruktion der traditionellen Sinnsysteme durch die Moderne der Frage nach dem Sinn eine neue Dringlichkeit verleiht. Doch hier stößt die Soziologie an ihre Grenzen.«